Ueber Luzius zu Remedius?
1. Mai 2010 von Marese Sennhauser
St.Prokulus, Naturns, Südwand, links von der wieder hergestellten seitlichen Eingangstür: Der aus der Wassergrube heraufgezogene Lucius ruft zum Gebet. Die Büffelkälber muss man sich weiter unten vorstellen. Der perspektivische Mäander wurde wohl später hinzugefügt als die fussleckenden Kälber verblasst waren und als das Luciuspatrozinium nicht mehr aktuell war.
Gegen Ende des 8.Jahrhunderts wurde in Chur und vermutlich auch andernorts neu das Fest des heiligen Lucius/Luzius liturgisch gefeiert. Zu diesem Anlass hat ein sehr gebildeter Kleriker eine Vita des Heiligen in Form einer Predigt verfasst. Vermutlich wurde sie zur raschen Verbreitung des (neuen?) Kultes mehrfach abgeschrieben und durch Boten weitherum versandt. Der Autor dieser wohl ad hoc erfundenen Lebensbeschreibung ist ziemlich sicher Remedius, der damalige Bischof von Chur gewesen. Solche Viten folgen meistens einem Klischee und verraten deshalb mehr über den Autor als über den gefeierten Heiligen. Ich habe mir den Text genau angesehen und bin zu teilweise anderen Resultaten gekommen als seinerzeit der Disentiser Pater Iso Müller. Mir scheint, dass des Remedius eigener Lebensweg in der langen Einleitung darin angesprochen wird. Aehnliches hat 1950/51 Heinz Löwe zu der von Arbeo von Freising verfassten Vita des heiligen Corbinian gesagt.

ein dämonisches (herausgestreckte Zunge!) Büffelkalb an der Spitze der Herde
In der Conversio vel Vita Sancti Lucii gibt es ein einziges Wunder: Es lebten damals „wilde“, zottige Wasserbüffel in der Gegend der Luziensteig, zwischen Balzers und Maienfeld, am Weg von Bregenz über Chur nach Italien. (Paulus Diaconus berichtet in seiner Historia Langobardorum, dass solche frei lebende „bubali“ Ende des 6. Jahrhunderts aus Italien ins Alpenland eingeführt worden sind und dort furchtsam bestaunt wurden). Lucius begab sich nun mit seinen städtischen Begleitern dorthin um die abergläubische Landbevölkerung aufzuklären. Diese fürchtete und verehrte die frei lebenden „Götterkälber“ und ging aufgebracht auf den Heiligen los. Die ins Heidentum zurückgefallenen Bauern warfen den gegen den Tierkult predigenden Missionar in die Wassergrube eines Brunnenhauses um ihn dort zu steinigen und so zu ertränken. Er wurde aber durch seine christlichen Begleiter heraufgezogen und fuhr sogleich in seiner Predigt fort. Er betete um Vernichtung der dämonischen „Götterkälber“, aber diese waren stehen geblieben und kamen nun zu ihm um ihm demütig die Füsse zu lecken. Dann liessen sie sich willig als Zugtiere vor einen Wagen spannen und verloren von jetzt an ihre Scheu vor den Menschen. Lucius aber wurde im Triumph nach Chur zurückgeführt. Die Lucius-Bilder sind Teil des Gesamtprogrammes, das den ewigen himmlischen Lobgesang zu Ehren des dreieinigen Gottes zum Thema hat. Datierung: Ende 8. und Anfang 9.Jh.
Da ich zur bildlichen Umsetzung der Luziuslegende letztes Jahr einen Dia-Vortrag vorbereitet hatte, der wegen Vertagung eines Treffens in St.Prokulus in Naturns nicht gehalten werden konnte, stelle ich hier die Hauptszenen mit meiner neuen Interpretation vor, allerdings ohne mich näher dazu zu äussern. Ich glaube nämlich nicht, dass die Szenen eigens für Naturns entworfen worden sind, da sie mit Mühe den engen Raumverhältnissen angepasst wurden. Bild- und Literaturbelege sind vorhanden. Ich warte nun auf eine Gelegenheit meine Überlegungen zu Lucius, zur Luziensteig, zu Chur und zur Person des Bischofs Remedius zur Diskussion zu stellen.
Literaturhinweise:
Iso Müller, Die karolingische Luciusvita, S.1-51 im 85. Jb der Hist.-Antiqu. Gesellschaft von Graubünden 1955, Chur 1956 (Nachdruck in „Frühes Mittelalter in Graubünden und der Schweiz“, Ausgew.Aufsätze, Ed.H.D.Altendorf, Disentis 2001)
Albert Gasser, Die Lucius-Vita, übersetzt und kommentiert. Disentis 1984 (vergriffen)
Nothdurfter, Hans, St.Prokulus in Naturns, Lana 1996 (dort weitere Literatur. Es gibt bis heute unzählige Meinungen zur Ikonographie und zum Stil dieser merkwürdigen Fresken)
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