3. Register des Weltgerichts: die Scheidung von Seligen und Verdammten
18. Juni 2007 von Marese SennhauserWeltgericht: Schema der erhaltenen Teile; noch nicht eingezeichnet sind hier die spärlichen Fragmente von Strafengeln und jammernden Menschengruppen in der rechten Bildhälfte.
Obwohl der Einbau der Empore dieses Register weitgehend zerstört hat, meine ich auf Grund der spärlichen Reste einiges zur Komposition sagen zu können. Ja ich wage sogar den Versuch die fehlende Mitte zu rekonstruieren auf welche hin sich die Scharen der Auferstandenen von beiden Seiten her abwärts schreitend, hinbewegen. Die schon bekannte Strichzeichnung mag helfen, die beiden Fotos mit den von grossen Engeln begleiteten Menschen links im Bild zu orten; auch rechts gibt es unterhalb der Apostel noch schwache Spuren einer Menschengruppe. Die beiden schräg verlaufenden rotbraunen „Balken“ treffen, wenn man sie in ihrem Verlauf verlängert, nicht in der Mitte des Bildstreifens zusammen. Sie sind also nicht als geometrische Unterteilung des Bildfeldes zu verstehen, sondern deuten vielleicht zwei Berghänge an auf denen kleine Menschlein, von Schutzengeln getröstet (links, also zur Rechten des Richters) oder von Engeln mit Lanzen zurückgetrieben (rechts, also zur Linken Christi) hinter einer Mauer (?) auf ein nicht erhaltenes „Zeichen der Entscheidung“ zustreben.
Hier, auf der senkrechten Mittelachse des gesamten Bildes, befindet sich im mittleren Register Christus auf dem Richterthron. (Zieht man die Diagonalen durch den Mittelpunkt seines Kreuznimbus, so sieht man, dass dieser der Ausgangs- und Angelpunkt der ganzen Komposition ist, welche sinngemäss auch die drei Davidsbilder im obersten, heute nicht mehr sichtbaren Streifen, in die Aussage einbezieht: Nathans Prophezeihung vom ewigen Thron des Davidssprosses.)
Links aussen, also zur Rechten des Richters: Scharen von verängstigten Lebenden und Auferstandenen. Ein grosser Engel geleitet kleine Menschen liebevoll hinab, hin zum Zeichen der Entscheidung im Zentrum unter dem Thron Christi
Etwas tiefer, gegen die Mitte hin, kümmern sich weitere Engel um die dichtgedrängte Menschenschar; einer legt einem die Hand auf den Kopf, ein anderer breitet schützend den rechten Arm um eine Gruppe – hält er zudem noch eine offene Schriftrolle?- und weist mit der Linken nach oben zum Richter. Und ganz rechts aussen – zerstört bis auf eine bunte seitlich ausschwingende Flügelspitze und den gewinkelten, nach oben akklamierend erhobenen rechten Arm- stand wohl einer der beiden Wächterengel neben dem verlorenen Heils- und Entscheidungszeichen: dem Leidenskreuz oder dem Gotteslamm auf dem Paradieshügel mit den vier Quellen, oder dem „Lamm inmitten des Thrones“.
Denn das Kreuz ist nach Ambrosius Auitpertus der Thron des Lammes. Die offenen Schriftrollen meinen wohl das Buch des Lebens, aber nicht als Verzeichnis der guten und schlechten Taten, sondern im Sinn der heidnischen (und dann auch frühchristlichen) Sepulkralplastik, das erlebte, erfahrene, erlittene Leben jedes einzelnen; zu finden z.B. auf ravennatischen Sarkophagen des 4./5.Jh., was wiederum zeigen mag, dass die Bilderwelt des Müstairer Zyklus mit Vorliebe auf frühe – als authentisch gewertete – Vorbilder und Anregungen zurückgreift.
Solche Schutzengel finden sich auch in späteren plastischen Werken, etwa im romanischen Weltgericht am Westportal der Kirche St.Lazare in Autun im Burgund (12.Jh) und im Cavallini-Gerichtsfresko in S.Cecila in Rom (13.Jh), sowie gelegentlich in der Buchmalerei.
Der Wächterengel mit bunten Schwingen befindet sich übrigens nicht in der Mitte unter dem Richterthron, sondern unter dessen linker Ecke. Es muss also einen zweiten unter der rechten Ecke gegeben haben – und zwischen beiden das Erlöserkreuz (vielleicht mit dem Lamm im Zentrum?)!
Rechts im Bildstreifen ist noch ein Fragment eines Strafengels zu sehen; und unterhalb der zur linken Christi thronenden Apostel eine weitere Menschengruppe von der ich aber kein Foto habe. Es muss sich um die Abzuweisenden handeln, die stehen bleiben weil sie das Zeichen der Erlösung, das Kreuz des Lammes, nicht anerkennen. Unterhalb des schrägen Balkens (des Berghangs oder der Mauer?) sieht man den zackigen Rand des Höllenabgrunds. Dieser, sowie auch das Paradies auf der andern Seite, ist gänzlich verloren. So weiss man leider nicht ob der Ort für die Seligen der ummauerte Paradiesgarten mit der thronenden Gottesmutter und den alttestamentlichen Patriarchen war, oder die feste Stadt, das himmlische Jerusalem der geheimen Offenbarung.
Die drei Registerstreifen sind, obwohl als fortlaufende Erzählung gedacht und – zumindest oben – von links nach rechts zu lesen, als Zentralkompositionen angelegt. Zudem sind sie durch den breiten Ornamentrahmen zu einer Einheit zusammengefasst und für Bewegungen und Gesten der Figuren nach unten oder nach oben durchlässig. So ergibt sich trotz der Parzellierung schliesslich ein einziges grosses Bild mit einer betonten senkrechten Mittelachse. Man sah also in der Mitte der Westwand von oben nach unten: Die Verheissung an David – das siegreiche Kreuz als Zeichen des Menschensohnes – den Menschensohn auf dem Richterthron – das „Zeichen der Entscheidung“: das Holz des Heils (mit dem Lamm?) zwischen zwei Engeln – und schliesslich noch, ebenfalls auf dieser Bedeutungsachse unterhalb des Weltgerichtsbildes, ein karolingisches „Fenster“, das kein Licht von aussen empfing! Sollte das 2003 neu gefundene Rundbogenfenster unten in der Westwand den symbolischen Thron des irdischen Herrschers und weltlichen Stellvertreters Christi, also Karls des Grossen, umfangen haben?
Ich zeige nun noch einige mögliche Darstellungen des Kreuzes als Zeichen der göttlichen Barmherzigkeit und Ort der Glaubensentscheidung
Ein im Plantaturm im Klosterareal von Müstair gefundenes karolingisches Marmorrelief mit dem Lamm im Erlöserkreuz mag andeuten wie man sich das verlorene „Zeichen der Entscheidung“ im untersten Register des Weltgerichts vorstellen könnte (ohne die Begleitfiguren )
Sehr viele der späteren Weltgerichtsdarstellungen zeigen nämlich unterhalb vom verherrlichten Christus auf dem Thron entweder das „Holz des Heils“, das Leidenskreuz, oder ein Kreuz auf einem Altar (westliches Aequivalent der östlichen Etimasia) als Hinweis auf den Opfertod des „Lammes“. Ich beschränke mich hier auf zwei solche Bilder: Die Bronzetür von San Zeno in Verona und das Gerichtsbild von Giotto in der Arenakapelle in Padua
Bronzetür von San Zeno in Verona, 11.Jh
Kein vollständiges Weltgericht, sondern Christus als Erlöser in seiner Herrlichkeit
Giottos Weltgerichtsbild in Padua (Anfangs des 14.Jh.)
Hier haben wir es nicht mehr mit einer Abfolge von Ereignissen zu tun, sondern mit einem in einem Blick zu erfassenden Schau-Bild. Oben rollen zwei Engel das Firmament zusamen, unten stehen die Toten aus ihren Gräbern auf. Dazwischen das Kreuz zwischen zwei Engeln als Zeichen der Entscheidung und beidseits davon das Paradies (nicht ein Ort, sondern die selige Schau der zu Christus hinaufstrebenden Heiligen und irdischen Menschen) und die genüsslich geschilderte Hölle mit Teufeln und thronendem Satan im Feuerstrom, der vom Richterthron ausgeht.
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