2. Register des Weltgerichts: Das eigentliche Tribunal
16. Juni 2007 von Marese SennhauserMüstair Westwand: Weltgericht, zweiter Streifen, Mitte: Jesus, der Menschensohn und Davidsspross hat auf dem Richterthron Platz genommen. Er ist von einer kreisrunden, irisierenden Gloriole und von einer Schar von Engeln mit vielfarbigen Nimben (Lichtwesen!) umgeben. Oben und unten ist das Bild von einem spätgotischen Fenster und einer als Zugang zur Nonnenempore eingebrochenen Tür beschädigt. Darunter ist schon das dritte Register mit der Scheidung von Guten und Bösen zu sehen.
Das eigentliche Tribunal: die Beratung der Apostel, der Spruch des Richters und die Ausrufung des Urteils durch zwei Gerichtsschreiber-Engel.
Christus, der Menschensohn (Gottessohn und Davidsspross), umringt von seinem himmlischen Hofstaat und flankiert von den zwölf Aposteln, thront mit ausgebreiteten Armen im Zentrum des Mittelstreifens. Sein Sitz ist ein lehnenloser, mit einem Kissen belegter Truhenthron. Die rechte Hand ist einladend geöffnet, die linke abweisend nach unten gesenkt. Diese annehmende und verwerfende Geste findet sich schon im frühchristlichen symbolischen Weltgericht mit Schafen und Böcken und noch in Giottos Gerichtsbild, während Christus später meist mit ausgebreiteten Händen die Wundmale vorweist (Hinweis auf Erlösung und Barmherzigkeit)! Gleichzeitig wird der Urteilsspruch nach Matth.25, 34-46 von den beiden vordersten Engeln in byzantinischer Hoftracht auf geöffneten Schriftrollen kundgetan (Schrift allerdings nicht erhalten). Man vergleiche die Strichzeichnung nach dem Weltgerichtsbild von S.Angelo in Formis im gestrigen Post: Dort sind die, die Schriftbänder haltenden Engel unterhalb des Thrones zu sehen; auf dem Pergament des Mittleren steht: Zeit wird es nicht mehr geben (Anstatt der Einrollung des Himmels und der ganzen Parusie-Szene).
Die 12 Apostel, die als Vertreter der Gesamtkirche als Geschworene und Mitrichter amten, sitzen beidseits auf langen, von Arkaden hinterfangenen und mit Suppedaneum ausgestatteten Bänken. Sie sind nicht steif und feierlich gereiht, sondern als verschränkte Paare gruppiert und einander in rhythmischer Bewegung im Gespräch zugewandt:
zweiter Streifen rechts: 4 der 6 zur Linken des Richters wie antike Philosophen diskutierenden Apostel (ein weiterer ist hinter dem gotischen Wandpfeiler verschwunden. Ebenso beeindruckend sind die 6 links zur Südwand hin auf ihrem Synthronon sitzenden Begleiter des Herrn. Ein Beweis für die sichere Gestaltungskraft des leitenden Meisters der Fresko-Werkstatt. (Man denke an die verschränkten Gruppen des Himmelfahrtsbildes an der gegenüberliegenden östlichen Stirnwand.
Leider bringt man die ganze Zwölferreihe nicht auf einer Foto unter, sonst wäre der Beweis leicht zu erbringen, dass man hier ein ganz hervorragendes Werk grosser Freskomalerei vor sich hat. Und selbst wenn man Zutritt zur Nonnenempore bekäme, hätte man nicht den nötigen Abstand um die ganze Komposition in den Blick zu bekommen. Die gleiche gestalterische und malerische Qualität hat übrigens das Himmelfahrtsbild zuoberster an der Ostwand; aber auch dieses ist nur dem Besucher zugänglich, der die Kletterpartie in den Dachstock über den Gewölben wagt. Immerhin sind die ebenfalls grossartigen Darstellungen der Mittel- und der Nordapsis noch zu sehen. Und wer über genügend Phantasie verfügt, mag sich das überwältigende Erlebnis der eindrücklichen Bilderschau im einst ungeteilten Saal vorstellen…Ob das mit einer Video-Installation vielleicht möglich gemacht werden könnte?
Hier schliesslich noch der Titulusvers der Carmina Sangallensia, der das Richterkollegium im fast 100 Jahre jüngeren Weltgerichtsbild in der verschwundenen Gozbertbasilika in St.Gallen beschreibt:
„Hier sitzen die höchsten Heiligen mit Christus, dem Richter, um die Frommen zu rechtfertigen und um die Böswilligen in den Abgrund zu verweisen.“
Der nicht mehr lesbare Titulusstreifen des Gerichtsbildes von Müstair findet sich übrigens nicht etwa unter der Gesamtansicht, sondern unter dem eben besprochenen mittleren Register! Er gilt also für das ganze Gemälde ( mit Vorzeichen oben und mit Vollstreckung des Urteils unten)
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